Die Treppe

In Bergen gibt es auch Berge.

Meine morgendliche Laufrunde hatte mich auf den Fløyen geführt. 

35 Minuten ordentlich bergauf, zuerst durch die verwinkelten Gassen am Hang, dann über mehrere Serpentinen durch den Wald bis hinauf auf das Bergplateau. 399 m, eines der beliebtesten Ausflugsziele Bergens. 

Von dort aus hat man eine fotogene Aussicht über die Stadt, das Meer und die vorgelagerten Inseln. 

Ich hatte also schon einen Berg Bergens „in den Beinen“, als wir dann nach dem Frühstück zum Ulriken aufbrachen. 

Der Ulriken ist der höchste der sieben Gipfel, die die Stadt umgeben. Christof hatte sich in der Touristinfo erkundigt, alles ganz easy. 

Nur 643 m hoch. Heute kein Regen. Nichts wie hin! 

Evi und Tim blieben leider „unten“ in der Stadt. 

Der Bus setzte uns in einem Wohngebiet ab. 

Station: Montana! Nomen est Omen? 

Ein Weg führte uns an einem hässlichen Umschaltwerk vorbei in den Wald hinein.

Ein breiter Forstweg, schräg zum Hang, der gemächlich anstieg. 

Ein kurzer, sehr kurzer Blick auf die Karte hatte mir gezeigt, erst nach rechts, anschließend nach links, fast im rechten Winkel

… dann sind wir schon oben. Wie gesagt, ganz easy! 

 

Leute kamen uns entgegen. Knarz, knarz! 

Das Knirschen unter ihren Sohlen verriet uns: Aha! Spikes! 

Die hatten wir schon öfter gesehen und vor allem gehört. 

Lautlos geht man mit denen nicht, kann ich Euch sagen! 

Es gibt sie - wie wir uns später schlau machten - in integrierter Form, 

d.h. als Laufschuhe mit Spikes direkt unter der Sohle (nicht zu verwechseln mit Sprinterschuhen)

oder aber als eine Art „Gummistrapsen“ zum Anschnallen z.B. über Winter- und Wanderschuhe. 

Das fanden wir jetzt echt etwas übertrieben in diesem Gelände.

Da waren wir uns einig. Dachten wir zumindest … und stiegen weiter bergauf. 

Permanent ging’s jetzt hoch, mittlerweile schon etwas steiler. 

Klar, wir wollten ja auch nach oben! 

Ich mag es bergauf zu laufen, meine Beine waren noch richtig fit… und Christof? Der war ja ohnehin taufrisch!

Dann kamen die ersten Kurven und der Untergrund war mit einem Mal nicht mehr ganz so griffig,

weniger Steine, sondern einfach nur glatter Schnee und darunter zum Teil Eis. 

Schon ein komisches Gefühl, wenn der Fuß vorwärts bergauf greift und dann plötzlich rückwärts wieder nach unten wegrutscht. 

Man unvermittelt den Halt verliert. 

Das kam einmal vor, dann nochmal und vielleicht noch ein drittes Mal.

Spätestens dann wurden uns klar, dass wir da einen ziemlich steilen 

und vor allem „arsch“glatten Anstieg „unter den Sohlen“ hatten. 

„Eisig hier!“, hörte ich Christof sagen und … 

Alarmglocke! 

Oh Gott! Wenn der jetzt ausrutscht! 

Eigentlich völlig leichtsinnig, hier hochzugehen in seinem Post-Prolaps-Zustand!

Und wie vor allem soll er da unbeschadet wieder runterkommen? 

Ob der Weg wohl nochmal besser würde? Vielleicht da vorne? 

Die Frau in der Touristinfo hatte offenbar eine Treppe erwähnt. 

Ja, eine Treppe wäre super! 

Aber wann kommt nur diese verdammte Treppe? 

Ich erinnere mich, dass uns just in diesem Moment eine junge Frau überholte - in Sportklamotten, zwei Hunde in ihrer Begleitung.

Nicht rennend, nicht joggend, aber knarz, knarz … energischen Schrittes an uns vorbeiging, als gäbe es da oben etwas für umsonst.  

 

Und dann standen wir davor, vor der bewussten Treppe -1333 Stufen!

Oh ha! Das hörte sich viel, aber zunächst einmal nicht so schlimm an. 

Eine kleine sportliche Herausforderung! Da hatte ich Lust drauf. Treppensteigen ist gut für die Kondition. 

Hauptsache mehr Halt unter den Füßen. 

Die Treppe lag also vor uns, wand sich den Berg hinauf, bis sie dem Blick entschwand. 

Große, breite Stufen aus gehauenem Stein ohne Geländer. 

Wer hatte die wohl hier hochgeschleppt und wie? 

Später erfuhren wir, dass sie von Nepalesen gebaut wurde. Respekt vor dieser Leistung!

Also gut! Let’s go! 

Schon nach den ersten Schritten merkten wir: Auch hier war es glatt, sauglatt sogar! Shit! 

Ich dachte an den Rückweg. Wie da wieder runterkommen, ohne sich mindestens einmal hinzulegen? 

Ein blöder Erdklumpen auf einer Pferdekoppel hatte gereicht, um Christof völlig „auszuknocken“ und unseren Reiseplänen gehörig einen Strich durch die Rechnung zu machen. Das hier war viiieeel schlimmer!!!

Während in meinem Kopf die warnende innere Stimme partout keine Ruhe geben wollte, war Christof wohlgemut, bester Laune.

Er kam langsam hinter mir her, machte Fotos, erfreute sich an der immer besser werdenden Aussicht und beteuerte mir,

ich solle mir BLOOOSS keine Sorgen um ihn machen. 

Unterdessen waren schon einige Leute flotten Schrittes an uns vorbeigezogen oder uns unbeschwert entgegengekommen. 

Die meisten von ihnen: knarz, knarz … Alles klar! Wir brauchten gar nicht aufschauen. Wir hörten, dass sie einfach besser ausgerüstet waren als wir. 

Die meisten jedenfalls. Nicht alle! 

Ziemlich weit oben, kurz vor dem Gipfel, trafen wir auf zwei junge deutsche Frauen, die uns - ebenfalls „unbespiket“ - mehr mit den Füßen tastend als gehend die Treppe hinunter entgegen schlichen. Sie klagten über Knieschmerzen und warnten uns vor dem letzten Stück. 

„Da muss man sich UNBEDINGT mit BEIDEN Händen am Geländer festhalten!“.

Wenigstens gab es ganz oben dann doch ein Geländer! 

Zu dem Zeitpunkt war zu der Sorge um Christof auch noch meine Höhenangst dazugekommen.

Mich umdrehen, nach unten schauen und die zugegebenermaßen wirklich tolle Aussicht genießen, ging gar nicht. 

Ich wollte nur noch hoch - Christof zuliebe, der so völlig im Glück war - um dann so schnell wie möglich wieder den Abstieg hinter uns bringen.

So haben wir’s dann auch gemacht. Waren nur kurz oben auf dem Gipfel. 

Da war alles zu, leider auch die Toilette. Es war kalt, es hat ordentlich geblasen, es wurde schon dunkel.

Und plötzlich schienen wir die Letzen zu sein!- Oh nein, auch das noch! Wenn’s jetzt passiert, kann niemand helfen! 

 

Es ist dann nichts passiert. Überhaupt nichts. Gar nichts! 

Wir sind heil wieder unten angekommen und das Absteigen war halb so schwierig, wie ich es mir vorgestellt hatte. 

Wir waren einfach vorsichtig und nicht besonders schnell. 

Und die Letzten waren wir auch nicht, bei weitem nicht, im Gegenteil. 

Es kamen uns noch soooo viele Menschen entgegen, beschwingten, forschen Schrittes, auffällig viele jüngere Frauen, die meisten im Sportdress. 

Der Ulriken mit seinen 1333 Stufen ist offensichtlich für viele Bergenser der Feierabendtrainingsberg,

der Ersatz für das Treppensteigegerät im Fitnessstudio! 

 

Am Fuße der Treppe schauten wir noch einmal zurück. 

Da fiel mein Blick auf das Warnschild. 

Gut, dass ich das übersehen hatte. Es hätte mich noch mehr ausgebremst. 

 

Als ich dann im Bus saß, entspannte ich mich … Endlich! 

Wenngleich mich meine innere Stimme noch immer ein einem Dialog gefangen hielt:

Hatten wir (nur) Glück gehabt? Waren meine Vorbehalte unbegründet und völlig übertrieben gewesen? 

Es war schon dunkel, ich kaute an meiner Vesper. Die erleuchteten Häuser der Stadt zogen an mir vorbei, ohne dass ich sie wahrnahm. 

Vor meinem inneren Auge aber tauchte ein Bild auf:

Der kurze Blick vom Gipfel auf die in der Dämmerung liegende Stadt unter uns, auf das Meer, auf die vorgelagerten Inseln

… und vor allem auf die umliegenden Berge. 

Weit imposanter noch als die Aussicht vom Fløyen!

Einfach grandios! 

Für mich leider nur im Nachhinein!

PS: Auf dem Nachhauseweg sind wir dann noch im Sportgeschäft vorbei gegangen. Haben uns zu den diversen Spikesvarianten beraten lassen.

Mittlerweile sind wir im Besitz des Modells: Ice gripper

PS: Wir haben nachgelesen. In Norwegen gibt es noch ganz andere Gipfeltreppen, alle von Nepalesen gebaut, sogenannte Nepal- oder Sherpatreppen. 

Die längste mit über 4000 Stufen. Da will Christof jetzt unbedingt auch noch hin!

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Kommentare: 2
  • #1

    Claude Boulanger (Samstag, 07 Januar 2023 23:10)

    Da kann ich wärmstens die Laufschumodelle von Icebug empfehlen (mit Wechselstollen!)...Ist sogar eine schwedische Firma - die wissen wohl, warum sie das herstellen ;-)
    Hatte selbst mal so ein Modell; hat mir gute Dienste beim winterlichen Lauftraining geleistet!

  • #2

    Heinz (Dienstag, 10 Januar 2023 21:34)

    Was für ein spannender Stil, habe richtig mitgefiebert, habe mir vor Jahren mal bei so einer Aktion mein Steißbein angebrochen. Schön, dass Ihr unbeschadet runter gekommen seid! Natürlich wie immer Fotos auf höchstem Niveau