Ins Hinterland (3)

Es ist eigentlich mitten in der Woche, unsere letzten Tage in Rondane

Am Wochenende wollen wir uns endgültig auf den Weg gen Norden machen - Abschied nehmen vom Winterwonderland. 

YR.no hat kaltes, aber gutes Wetter vorausgesagt. 

Eine Übernachtung auf einer Berghütte muss noch sein! 

Åsbua hatte uns schon im Herbst gelockt; eine einfache kleine Hütte ohne Wasser und Strom oben auf dem Bergplateau,

knapp unterhalb der Baumgrenze. 

Herrlich und sehr einsam gelegen in einem Birkenwäldchen an einem kleinen Bach. 

Dahinter eine riesige Hochfläche, die von Sollia bis nach Hamar reicht. 

Rentierterrain! 

Hans Petter, der Wildhüter, zählt dort regelmäßig über 2000 wilde Rentiere.

 

Am frühen Nachmittag machen wir uns auf den Weg. 

Schneeschuhe an den Füßen. 

Zuerst einen Kilometer steilst bergab hinunter bis zum Fluss, 

Aus der strahlenden Mittagssonne ins absolute Schatten- und Kälteloch. 

Brücke und Fluss liegen hier seit Wochen wie erstarrt, fast unkenntlich unter  der schweren Fracht des Schnees, unerreicht von jeglichem Sonnenblinzeln. 

Selbst dem Wind scheint in dieser Senke die Puste auszugehen, denn auch die Bäume tragen noch immer ihr wulstig weißes Winterkleid. 

Jenseits: der gegenüberliegende Hang, mindestens genauso steil. 

Doch was für ein Glück! 

Kein meterhoher Tiefschnee, 

kein plötzliches Einbrechen und Versinken bis zum Knie, 

kein mühsames Herumirren und Suchen nach dem Pfad. 

Nein, deutlich die Spur eines Schneemobils. 

Sie führt bergauf in Richtung Åsbua.

Hans Petter?

 

Der Weg ist sehr steil, die Schneeschuhe ein Segen. 

Wir sind auf dem Prestvegen unterwegs. 

Damals, Anfang des 18. Jhdts., als der norwegische Klerus die Leute zu einem zweimaligen Kirchenbesuch im Jahr verpflichtete,

mussten die Bewohner Sollias zur Messe nach Ringebu. 30 km zu Fuß über das Hochplateau und das Gebirge. 

In Sollia selbst gab es damals noch keine Kirche.

Ein sehr langes, beschwerliches und im Winter gefährliches Unterfangen! 

Genau dieser Weg, dem wir heute folgen, war damals auch der ihre. 

Mich fasziniert diese Vorstellung! 

 

Auf der Höhe dann, oberhalb der Kiefern und Fichten, windet sich der Pfad durch Birkenwald. 

Rechts und links stehen die Bäume wie geduckt, zarte Bärte wehen an den Zweigen: Engelshaar, eine Flechte.   

Hier oben ist sie schwarz und zottelig - ein bisschen gespenstisch fast. 

Wäre da nicht die Abendsonne. Ihre Strahlen treffen uns unvermittelt und für einen kurzen Moment. Innehalten! 

In ein paar Minuten wird sie hinter den scharfen schwarzen Kante des gegenüberliegenden Bergrückens endgültig abtauchen. 

 

Nun lichtet sich der Wald und wir kommen an einen magischen Ort: Porten

Eigentlich nur zwei Haufen uralter Steine, etwa einen Meter hoch, rechts und links des Weges, aufeinander geschichtet, von Menschenhand, vor langer Zeit.  

Hier heißt es, sollen die Bewohner Sollias den Priester begrüßt und in Empfang genommen haben, als man der kleinen Gemeinde dann schließlich später eine Kirche bewilligte und der Geistliche von Ringebu übers Fjell auf diesem Weg nach Sollia kam. 

Für uns ist Porten wie das Tor zu einer anderen Welt. 

Die Hochebene öffnet sich und empfängt uns mit ihrer umwerfenden Weite und Kargheit. 

Weit hinten können wir Åsbua schon erahnen. 

Wir verbringen eine wunderbare und gemütliche Nacht in der kleinen Hütte. 

Der gusseiserne Bollerofen wärmt uns bis in die frühen Morgenstunden, verschlingt einen ganzen Sack Birkenholz. 

Viele Kerzen lassen auch ihr Wachs an diesem Abend. 

Gegen 22:00 treten wir noch einmal vor die Hütte, in die helle Nacht. 

Der Himmel sternenfunkelnd klar, von eisigem Blau. 

Über Åsbua der zunehmende Mond als unvollendete Scheibe. 

Und dann unverhofft und deutlich zu erkennen: Ein heller grüner Schleier hinter dem Saum der krüppeligen Birken - am Horizont - gen Nordost. 

Meine ersten richtigen Nordlichter! 

Ich meine solche, die ich auch mit bloßem Auge erkenne. 

Am nächsten Morgen starten wir zum Sonnenaufgang. 

Verlassen den Prestvegen

Laufen weiter in die Tiefe, durch die Weite, auf die Höhe. 

Das Stapfen im endlosen Weiß immer dem Horizont entgegen hat zuweilen etwas Monotones. 

Auch das Auge sucht nach Abwechslung, ist fast ein bisschen enttäuscht. 

Da gibt es nicht viel! 

Die Spuren, die wir schließlich im Schnee entdecken, sind anfangs nur ganz vereinzelt, dann werden es mehr, immer mehr, richtig viele … 

Vor uns nun eine völlig zertretene und aufgewühlte Fläche.

Überall haben sie im Schnee nach Flechten gesucht. Rentiere! 

In welche Richtung sie gelaufen sind, schwer zu sagen. 

Wir suchen lange: gehen rechts, gehen links, noch ein Stück bergauf, dann wieder Richtung Tal. 

Lassen die Blicke schweifen, die Augen stellen scharf, tränen… Nichts. 

Und unser Fernglas liegt im Bus. 

Ich bin schon im Begriff umzudrehen, als Christof sie durch sein Tele ausmacht. Genau gegenüber, am Hang, im Schatten des Gipfels.  

Was auf 1,5 km Entfernung wie schwarze kleine Punkte aussieht, offenbart sich durch die Linse als eine Rentierherde - eine riesige Rentierherde! 

Über 1000 meint Christof. Sagen wir mehrere Hundert! Hans Petter kann sie ja zählen. 

Wir können es jedenfalls kaum fassen! 

Zurück zur Hütte nehmen wir einen anderen Weg. Kurz verliere ich die Orientierung. 

Aus dieser Richtung kommend sieht alles anders aus. Wo liegt Åsbua, wo führt der Weg zurück? 

Noch lässt sich alles überblicken, aber ich fürchte, spätestens unterhalb der Baumgrenze die Richtung zu verlieren. 

Da tauchen plötzlich in der Ferne Steinmännchen auf. 

Große, von Weitem gut erkennbare Haufen, die Menschen vor langer Zeit hier aufgeschichtet haben, zur Orientierung. 

Der Prestvegen

Hier oben verläuft er weiter, durch die Ödnis dieses kargen Hochplateaus.

In die eine Richtung nach Ringebu, in die andere nach Sollia - nach Hause! 

Und die Steinmännchen weisen den Weg. Damals schon und heute immer noch! 

Einfach faszinierend! 

 

PS: 

1732 genehmigte der König den Bau einer Kirche in Sollia

Denn bei ihrem Marsch nach Ringebu zur Messe waren im Winter des Vorjahres mehrere Menschen oben auf dem Fjell erfroren. 

Geld zum Bau der Kirche gab es keines. Die Dorfbevölkerung Sollias errichtete die Kirche aus eigenen Mitteln und Ressourcen. 

Sie ist wunderschön! 

Als wir im Herbst hier waren, haben wir sie uns angeschaut. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Piet (Sonntag, 12 Februar 2023 03:28)

    So ne spannende Geschichte, das mit der Kirche!! Nice dass ihr geschichtlich wohl auch sehr viel mitnehmt.. Mega cosy Hütte und die Rentierherde ist echt unfassbar!! War ja ne sehr gelungene Tour ;)!