Eines stand fest: Auf diesen Berg würden mich keine zehn Pferde bringen.
Jenö hatte uns erzählt, dass in den vergangenen Jahren zum wiederholten Mal Leute vom Gipfel in den Tod gestürzt waren.
Orte, die Tausende von Touristen anziehen wie ein Magnet, des Postkartenmotivs wegen, sind mir ohnehin suspekt,
umso mehr, wenn Menschen dort ihr Leben riskieren.
Der Reinebringen stand also eigentlich überhaupt nicht zur Debatte, auch für Christof nicht.
Bis zu dem Tag, als wir lasen, dass dort in den letzten Jahren ebenfalls eine Sherpatreppe gebaut worden war.
Der Reinebringen ist der Hausberg des Ortes Reine. Wanderer jeder „Couleur“ machen sich hier auf den Weg zum Gipfel.
Im Sommer bis zu tausend an einem Tag!! Getrieben von der Aussicht auf die Aussicht.
Es soll eine der schönsten auf den Lofoten sein: unvergesslich, grandios, spektakulär, atemberaubend, fantastisch, sensationell, einzigartig
… aber auch todbringend.
Mit seinen 442 m ist der Reinebringen zwar nicht hoch, aber der Aufstieg auch wegen der Erosion äußerst steil und gefährlich.
Nach einigen tragischen Unfällen hat man inzwischen die Strecke befestigten lassen.
Mittlerweile führen 1978 Stufen bis hinauf auf den äußersten Gipfel. Bis zur Aussichtsplattform auf dem Sattel mögen es etwas weniger sein.
Auch diesmal die Arbeit der kunstfertigen Steinsetzer aus dem Himalaya. Hier mussten sie wohl unter extremsten Bedingungen gearbeitet haben.
Offenbar ist das letzte Teilstück erst vor kurzem fertig worden.
Es war Nachmittag, als wir aufbrachen. Yr.no hatte ein Nachlassen der Niederschläge angekündigt. Nur ein Nachlassen, kein Ende wohlgemerkt!
Den viel gepriesenen spektakulären Blick auf Reine von oben würden wir nicht erhaschen können. Was uns lockte, war das abermalige Erleben einer Sherpatreppe, das Steigen an sich und die Schönheit der Konstruktion, dieses Gefühl, in der Bewegung ein Teil davon zu werden.
Diesmal bei Regen, garantiert ohne Massen an Touristen. Nur wir und die Stufen.
Jede Treppe ist anders, jede hat ihren besonderen Reiz, jede fordert auf ihre Weise.
Diese hier schlängelte sich zunächst unschuldig und nassglänzend zu unseren Füßen, bevor sie sich schon nach wenigen Metern unseren Blicken entzog, in Regen und Nebel nach oben verschwand. Vertraute graue Steinplatten, die ins Ungewisse führten.
Auch hier schweißtreibend hohe Absätze und Stufen.
An ein Ausziehen der Jacken ist bei diesem Regen nicht zu denken. Also Feuchtigkeit von innen und außen.
Da heißt es akzeptieren und sich konzentrieren auf die Füße, den Schritt, den Rhythmus, das Atmen.
Ganz alleine waren wir nicht.
Noch im Birkenwäldchen kamen uns nacheinander 2 Frauen und 3 Männer entgegen;
leichtfüßig und schnell, eine Stufe nach der anderen nehmend, mehr hüpfend und tänzelnd als hinabsteigend.
Sportler waren das, ganz klar. Trainierten hier Ausdauer, Kraft und Koordination.
Nutzten wie wir diesen Tag, an dem sie die Treppe fast für sich hatten.
Wir sprangen förmlich zur Seite, machten die Bahn frei, schauten ihnen hinterher, verblüfft über diese unglaublich geschickte Schnellfüßigkeit auf diesem heiklen Untergrund.
Wie leicht könnte man hier straucheln, stolpern, stürzen und …!
Einer fiel besonders auf, weil komplett durchnässt im schwarzen, feuchtglänzenden Outfit, orangefarbene Schuhe an den Füßen.
Irgendwie irre!
Auch wenn wir nicht viel sahen, spürten wir, wie sich die Treppe nach und nach in die Höhe schraubte, erahnten die Steilheit der seitlichen Abhänge,
fühlten, dass es in den Kurven immer luftiger wurde,
bevor sich die Stufen für ein paar wenige und etwas sicherere Schritte wieder enger an den Hang schmiegten. Ein Wechsel zwischen An- und Entspannung.
Gut, dass ich das Nichts nicht sah, es hätte mich zutiefst geängstigt.
Noch weiter oben dann schließlich wie befürchtet nasser Schnee und die Stufen entsprechend etwas seifig, dazu aufkommender Wind.
Wir näherten uns dem Sattel. (Nicht dem Gipfel, nota bene!)
Ich wundere mich heute, dass ich die letzten Stufen bis dorthin überhaupt geschafft habe … mental, meine ich, unter diesen Bedingungen.
Oben auf der Plattform wie erwartet keine Sicht. Dafür Nebel, Schneeregen und starker Wind.
Wir komplett durchnässt und fröstelnd, aber keine Möglichkeit, etwas Warmes oder Trockenes anzuziehen.
War auch nicht nötig. Der Abstieg war auf andere Weise schweißtreibend, da nervenaufreibend.
Erst ziemlich weit unten, mit viel Terrain rechts und links der Stufen, konnte ich mich entspannen: meine Beine und vor allem meinen Geist.
Wir waren schon fast am Ziel, als uns eine Gestalt entgegenkam, in schwarzem, feuchtglänzendem Outfit, orangefarbene Schuhe an den Füßen.
Häää?
Ob das seine zweite Runde sei, wollte Christof wissen.
Er hieß Helder und ja, dies sei seine zweite Runde, er trainiere für ein Bergrennen.
Bis heute beschäftigt mich die Frage, an welcher Stelle oben er wohl umgedreht sein mag.
Doch nicht etwa auf der allerletzten Stufe?
Den Norwegern traue ich mittlerweile alles zu.
Zu Eurer Info:
Ich hatte erst im Nachhinein und anlässlich dieses Artikels mehr über die Todesfälle am Reinebringen gelesen.
Auch mit Treppe birgt der Aufstieg offenbar ein Risiko. Im Dezember 2021 stürzte eine Frau dort ab und verunglückte tödlich.
Nicht nur hier passieren derartige Unfälle, z.B. auf der Trolltunga oder dem Preikestolen. An exponierten Spots mangelt es in Norwegen nicht.
Allzu oft stehen diese Unglücke im Zusammenhang mit besonders sensationellen Fotos, die durch die sozialen Medien geistern.
Die Schattenseiten des Instagramtourismus, der zweierlei Gefahren mit sich bringt:
Die Leute werden von tollen Fotos in Bereiche gelockt, die sie nicht „beherrschen“.
Allein, um dort hinzugelangen, gehen sie ein Risiko ein.
Vorort riskieren sie abermals ihr Leben, bei der Suche nach dem perfekten Foto oder der perfekten Selbstinszenierung.
Mittlerweile sterben mehr Menschen bei Selfies, als bei Angriffen durch Haie!
Um das zu verhindern, haben sich in Norwegen vielerorts die lokalen Tourimusverbände entschlossen,
die gefährlichsten Highlights ihrer Region nicht mehr durch besonders spektakuläre Fotos zu bewerben.
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Oliver Richmann (Freitag, 19 Juli 2024 14:38)
Da muss ich zustimmen, schick gestylt wird sich in Szene gesetzt. Heute auch ein Mädchen mit ihrer Mutter.